Montag, 22. Oktober 2018

Das Märchen vom gerechten Staat


Jürgen Habermas hat keine eigenständige Rechtsphilosophie entwickelt, sondern seine grundlegenden Überlegungen zu diesem Thema in seine Theorie des kommunikativen Handelns und die Diskursethik eingebettet. Diese sind im Werk Faktizität und Geltung (FuG) zusammengefasst. Bereits der Titel dieses Werkes weist darauf hin, dass Habermas von einer faktischen historischen Rechtswirklichkeit ausgeht. Metaphysische Begründungen des Rechts wie ein gottgegebenes Recht, ein Naturrecht, den Rückgriff auf das Wesen des Menschen, aber auch eine höhere Einsicht der Vernunft lehnt Habermas ab.

Im Gegensatz zum Historismus und zum Rechtspositivismus, die sich ihrerseits auf die Untersuchung des empirisch vorhandenen Rechts beziehen, verweist Habermas andererseits darauf, dass das Recht für seine Geltung einer Legitimation bedarf. Eine Reduzierung auf die Faktizität reicht nicht aus. Ohne Legitimation fehlen dem Recht die Akzeptanz der Adressaten und damit deren Bereitschaft, es einzuhalten. Rechtsgemeinschaften versteht er als „Assoziationen von gleichen und freien Rechtsgenossen, deren Zusammenhalt gleichzeitig auf der Androhung äußerer Sanktionen wie auf der Unterstellung eines rational motivierten Einverständnisses beruht.“ (FuG 23) Zur Geltung des Rechts trägt nicht nur die objektive Wirklichkeit bei, sondern auch die subjektive Einstellung, die der Bürger zum Recht einnimmt. Recht umfasst nicht nur Grenzen der Handlungsfreiheit, sondern auch Vorgaben eines Spielraums zur selbstbestimmten Entfaltung von Freiheit.
Im Gegensatz zum systemtheoretischen Positivismus Niklas Luhmanns ist Recht für Habermas nicht nur ein Subsystem der Gesellschaft, das der Einzelne aus der Beobachterperspektive wahrnimmt und das für ihn ein äußeres Element seiner Umwelt darstellt. Der Einzelne steht vielmehr als Teilnehmer in einer Interaktion mit den geltenden Normen und akzeptiert diese nur, wenn er ihnen einen Sinn entnehmen kann und von ihrer Richtigkeit überzeugt ist. Damit ist das positive Recht kein leerer Formalismus, sondern sein Geltungsanspruch hängt von seiner Ausgestaltung ab; „auch das positive Recht muss legitim sein.“ (FuG 49)
In der Geschichte findet sich eine Vielzahl von Beispielen unzureichender Akzeptanz bestehender Rechtsverhältnisse, so in Staaten mit Sklaverei, im Absolutismus, aber auch im liberalen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts.
„Wie ein Blick auf die europäische Arbeiterbewegung und die Klassenkämpfe des 19. Jahrhunderts lehrt, sind ja die politischen Ordnungen, die den Modellrechnungen von einer formal-rechtlich rationalisierten Herrschaft noch am nächsten kommen, keineswegs per se als legitim empfunden worden – sondern allenfalls von seiten der nutznießenden Sozialschichten und ihrer liberalen Ideologien.“ (FuG 546)
Da gesellschaftliche Entwicklungen dynamisch und komplex sind, erscheint es Habermas nicht möglich, bestimmte Rechtsverhältnisse philosophisch als ideal auszuweisen. Naturrecht und Vertragstheorien können die Lebensverhältnisse sowie die Mobilität und Pluralität der modernen Gesellschaft nicht abbilden.
„Bald wurde klar, dass sich die Dynamik einer über Märkte integrierten Gesellschaft in den normativen Begriffen des Rechts nicht mehr einfangen und im Rahmen eines apriorisch entworfenen Rechtssystems erst recht nicht sicherstellen ließen. Jeder Versuch, die Grundlagen des privaten und des öffentlichen Rechts theoretisch ein für allemal aus obersten Prinzipien abzuleiten, musste an der Komplexität der Gesellschaft scheitern.“ (FuG 592)
Allerdings kann man laut Habermas auf den Zusammenhang von Recht und Moral für eine Legitimierung des Rechts nicht verzichten, „ohne dem Recht das ihm wesentlich innewohnende Moment der Unverfügbarkeit zu nehmen.“ (FuG 594) Der Ausweg ist für Habermas eine Legitimation durch das Verfahren eines demokratischen Diskurses. Der Rückgriff auf positives Recht allein reicht nicht. Denn positives Recht ist im Extremfall auch im Totalitarismus funktionsfähig. Zur Legitimation bedarf es einer demokratischen Verfasstheit. Dies bedeutet, dass die rechtsetzende Macht selbst an rechtliche Verfahren gebunden ist und die von den Gesetzen Betroffenen durch Beteiligung an deren Entstehung mitwirken.
„Denn ohne religiöse oder metaphysische Rückendeckung kann das auf das legale Verhalten zugeschnittene Zwangsrecht seine sozialintegrative Kraft nur noch dadurch bewahren, dass sich die einzelnen Adressaten der Rechtsnorm zugleich in ihrer Gesamtheit als vernünftige Urheber dieser Normen verstehen dürfen.“ (FuG 51f.)
Die Forderung wird erfüllt, wenn die Festlegung der Rechtsnormen sich auf das Diskursprinzip stützt. Durch den Diskurs kann deren Geltung gerechtfertigt werden.
„Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten.“ (FuG 138)
Als Voraussetzung für einen solchen Diskurs fordert Habermas (FuG 157–160)
  • für jeden ein größtmögliches Maß an gleicher subjektiver Handlungsfreiheit
  • die Bestimmtheit der betroffenen Rechtsgenossen
  • garantierte Rechtswege zur Durchsetzung von Ansprüchen.
Diese allgemeinen Rechtsprinzipien dienen der Orientierung und müssen durch konkrete Regelungen materiell ausgefüllt werden.

Habermas’ diskursethischer Ansatz als reines Formprinzip der Verfahrensgerechtigkeit geht von einer idealen Situation sachkundiger und vernünftiger Teilnehmer am Diskurs aus (ideale Sprechsituation). Aufgrund der tatsächlichen Lebensverhältnisse wird die praktische Umsetzbarkeit bezweifelt. In der diskursiven Praxis, die sich in ihren Bedingungen oftmals sehr stark von den Bedingungen einer idealen Sprechsituation unterscheidet, ist nicht sichergestellt, dass Konsens Gerechtigkeit und Dissens Ungerechtigkeit bedeutet. Der Rechtsphilosoph Robert Alexy hat in seiner Theorie der juristischen Argumentation (1. Auflage 1978) versucht, die Grundsätze von Habermas’ diskurstheoretischer Gerechtigkeitskonzeption auf die Situation des gerichtlichen Entscheidungsfindungsprozesses zu übertragen. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen