Freitag, 28. Juli 2017

Europa der zwei Geschwindigkeiten


Das Modell des Europa der zwei Geschwindigkeiten ist ein Konzept flexibler Integration in Europa in der Form eines Modells europäischer Integration auf der Ebene der EU-Verträge (Primärrecht), wonach eine Gruppe von Mitgliedstaaten innerhalb der Europäischen Union („Kern“) eine verstärkte Integration im Bereich der alten EG anstrebt, während andere, weniger integrationswillige Staaten eine weitreichende Zusammenarbeit z. B. in den Bereichen Währungs- oder Verteidigungspolitik ablehnen (dauerhaft abgestufte Integration). Im Ergebnis besitzen nicht alle Staaten immer denselben Integrationsstand, sondern beteiligen sich unterschiedlich stark an dem Integrationsprozess der Vertiefung durch neue Politikbereiche.


Vorschläge eines Europa der zwei Geschwindigkeiten innerhalb der EG bzw. EU gehen auf die 1980er Jahre zurück und wurden seitdem bei den verschiedenen Reformen des EU-Vertrags immer wieder thematisiert. Eine praktische Umsetzung fanden sie mit dem Schengener Abkommen, der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion und dem Abkommen über die Sozialpolitik (Sozialprotokoll), an denen jeweils nicht alle EU-Mitgliedstaaten beteiligt sind bzw. waren.

Es gibt mehrere Varianten des Modells der verschiedenen Geschwindigkeiten: Ein Konzept schlägt vor, ein Kerneuropa schneller fortzuentwickeln bis zur Gründung einer formalen Europäischen Föderation (als „Föderation innerhalb der Konföderation“). Dem steht das alternative Konzept der „abgestuften Integration“ gegenüber, die die Fortentwicklung auf multinationale Verträge verlegt, die neben den Staaten des inneren Europa je nach Möglichkeit des Integrationsfeld auch weitere Staaten hinzunimmt. Damit verwandt ist das Modell eines „Europa à la carte“, bei dem jeder Staat sich nur an denjenigen Vertragselementen beteiligt, an denen er interessiert ist.

Der Begriff Kerneuropa wurde insbesondere durch ein Positionspapier der deutschen CDU-Politiker Wolfgang Schäuble und Karl Lamers bekannt, die im September 1994 im Vorfeld des Vertrags von Amsterdam forderten, dass eine Gruppe von Staaten innerhalb der Europäischen Union durch engere Zusammenarbeit die Integration vorantreiben sollte. Deutschland und Frankreich sollten dabei eine führende Rolle einnehmen, außerdem sollten Belgien, die Niederlande und Luxemburg an der Zusammenarbeit beteiligt werden. Diese Länder sollten „gemeinsam erkennbar gemeinschaftsorientierter handeln als andere und gemeinsame Initiativen einbringen“. Allerdings forderten Schäuble und Lamers keine formelle Institutionalisierung der Kerneuropastaaten und betonten, dass die enge Zusammenarbeit allen anderen integrationswilligen EU-Ländern offenbleiben sollte.

In der öffentlichen Debatte wird das Konzept eines Kerneuropas jedoch häufig auch mit einer institutionellen Ausdifferenzierung innerhalb der EU verbunden, bei der eine Gruppe von Mitgliedstaaten sich in verschiedenen Politikbereichen stärker integriert, während andere dauerhaft nicht daran teilnehmen. Eine solche Union innerhalb der Union wird vor allem in den Kerneuropastaaten selbst immer wieder in die Debatte eingebracht. Andere Politiker nehmen von solchen Vorschlägen jedoch Abstand, da sie Europa eher spalte als einige. Insbesondere der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer, der in seiner bekannten Humboldt-Rede im Mai 2000 noch eine kerneuropäische Föderation als Integrationslokomotive gefordert hatte, rückte später klar von dieser Konzeption ab.

Die EU-Kommissare Pascal Lamy (Frankreich) und Günter Verheugen haben 2003 anlässlich des 40. Jahrestages des Élysée-Vertrages von 1963 den nach ihnen benannten Lamy-Verheugen-Plan vorgelegt, der eine deutlich engere Zusammenarbeit Deutschlands und Frankreichs vorschlägt (z. B. Zusammenlegung der Streitkräfte), zumindest aber konföderative Strukturen, die weit über das im EU-Vertrag Vorgesehene hinausgehen. Ein Ziel wäre dabei die Schaffung eines handlungsfähigen Gegengewichts gegen die USA und ihre Möglichkeiten zur internationalen Einflussnahme und zum militärischen Eingreifen. Zuvor hatten sich die Handlungsmöglichkeiten europäischer Staaten etwa im Jugoslawienkrieg als begrenzt erwiesen.

Die Erfahrung der sicherheitspolitischen Beschränkungen hat eine Gruppe von Staaten dazu gebracht, ihre Strukturen schneller zusammenzulegen. Aus der Deutsch-Französische Brigade entstand das Eurokorps, dem mittlerweile Brigaden aus Deutschland, Frankreich, Belgien und Spanien unterstehen. Polen beteiligt sich mit einer Brigade zu Ausbildungszwecken, weitere Staaten entsenden Personal in den Stabs- und Unterstützungsdienst. Zu diesem stehenden Heer einer Europaarmee von ca. 60.000 Mann kommt das multinational ausgebaute 1. Deutsch-Niederländisches Korps und die European Air Group zusammen mit dem European Air Transport Command als Kern europäischer Luftstreitkräfte – an letzterem sind die Niederlande, Belgien, Frankreich und Deutschland beteiligt, Spanien und Luxemburg zeigen Interesse an einer Beteiligung.

Über diesen politischen Mechanismus können mindestens neun Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Rahmen der bestehenden Verträge Rechtsakte annehmen, der nur in den Mitgliedstaaten gilt, die sich der verstärkten Zusammenarbeit angeschlossen haben. Dazu und zum Erlass der notwendigen Durchführungsbestimmungen nehmen die jeweiligen Mitgliedstaaten die Verfahren und Organe der Europäischen Union in Anspruch. 

Einzige Besonderheit ist, dass im Rat nur diejenigen Mitgliedstaaten stimmberechtigt sind, die sich an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligen. De facto kann eine existierende EU-Behörde dann möglicherweise mit zweierlei Rechtsgrundlage in den Mitgliedstaaten agieren – mit der allgemeinen europäischen Rechtsgrundlage oder auf Basis der Bestimmungen der Verstärkten Zusammenarbeit. Beschließt ein weiterer Mitgliedstaat später, sich an der Verstärkten Zusammenarbeit zu beteiligen, so kann er sich dieser anschließen.

Eine Verstärkte Zusammenarbeit darf nicht mit dem weiteren Begriff der abgestuften Integration verwechselt werden, die sich außerhalb des genannten Rechtsrahmens befindet. Historische Beispiele für eine solche abgestufte Integration sind das Schengener Abkommen, das zunächst von einigen Mitgliedstaaten außerhalb des EU-Rahmens geschlossen wurde. Dieses wurde 1997 als Verstärkte Zusammenarbeit besonderer Art durch ein Protokoll zum Vertrag von Amsterdam in den Rechtsrahmen der Europäischen Union einbezogen. Dieses Protokoll musste von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden und enthält Abweichungen von den allgemeinen Regeln über die Verstärkte Zusammenarbeit.

Weitere Beispiele für die abgestufte Integration sind die Europäische Währungsunion (eingeführt 1993 mit dem Vertrag von Maastricht) oder die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (eingeführt mit dem Vertrag von Lissabon). Ein Beispiel für eine abgestufte Integration, die nunmehr für alle Mitgliedstaaten gilt, ist das Sozialprotokoll zum Vertrag von Maastricht, dem sich 1997 mit dem Vertrag von Amsterdam auch das Vereinigte Königreich anschloss, woraufhin es in den regulären Vertragstext eingebaut wurde.

Das Modell der abgestuften Integration bewirkt eine Flexibilisierung des Integrationsprozesses, ohne dass parallele Behörden neben den Behörden der Europäischen Union etabliert werden müssen, wie das für ein „Kerneuropa“ notwendig wäre. Stattdessen können Institutionen für die Durchführung der Einzelverträge nach Bedarf etabliert werden und bei fortschreitender Entwicklung erweitert werden. Problematisch ist allerdings der Flickenteppich an Rechtsbeständen innerhalb Europas, die bei grenzüberschreitenden Projekten eine Prüfung erfordert, welche Rechtslage maßgeblich ist.

Mit dem Modell der abgestuften Integration verwandt ist das Konzept eines Europa à la carte, das insbesondere von weniger integrationsfreundlichen Staaten wie Großbritannien wiederholt vorgeschlagen wurde: Die Mitgliedstaaten sollen sich demnach nur auf ein Minimum an Zielen einigen, die für alle beteiligten Länder verbindlich sind (z. B. den Binnenmarkt); in allen anderen Politikfeldern (z. B. Währungsunion, Außenpolitik
Verteidigungspolitik, Freizügigkeit, Flüchtlings- und Asylpolitik, innere Sicherheit, Justizpolitik) sollen nur die willigen Staaten spezifische Einigungsschritte unternehmen, während die übrigen weiterhin die nationalstaatliche Souveränität behalten. Rechtlich wäre auch dieses Modell mithilfe der Verstärkten Zusammenarbeit umsetzbar. Während jedoch die Vertreter der abgestuften Integration der Verstärkten Zusammenarbeit meist eine Vorreiterfunktion zuschreiben – der sich andere Mitgliedstaaten später anschließen können –, wird unter Europa à la carte meist ein Zustand dauerhaft ungleicher Integrationstiefe verstanden.

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