Sonntag, 20. Mai 2018

Die überschätzte Generation


Sie protestierten gegen starre Strukturen, den Vietnamkrieg, die rigide Sexualmoral und die Nichtaufarbeitung des Nationalsozialismus: Tausende Studenten gingen in den 1960er Jahren auf die Straße – und unter der Chiffre "68" in die Geschichtsbücher ein. Bis heute sorgen die Ereignisse dieser Zeit für Kontroversen: War sie notwendig für den Übergang in die moderne Gesellschaft? Oder ist die 68er-Generation für Werteverlust, Kindermangel und Bildungsnotstand verantwortlich? 

Trotz ihrer internationalen Bedeutung und zeitlichen Ausdehnung über etwa zehn Jahre werden die verschiedenen Studentenbewegungen der 1960er Jahre in Deutschland umgangssprachlich oft als „68er-Bewegung“ zusammengefasst. 

Demgemäß wird die beteiligte Generation oft „68er-Generation“ oder „68er“ genannt. Der Publizist Rainer Böhme definiert die acht Millionen Deutschen der Jahrgänge 1940 bis 1950 als 68er. Ab 2005 erreichte diese Generation ihr Renteneintrittsalter. Oft wird die Auflehnung eines Teils dieser Jahrgänge gegen Autoritäten als Generationenkonflikt oder als Jugendbewegung eingeordnet. Jedoch waren mehrere Generationen an den Konflikten beteiligt. Stefan Hemler bezeichnet sie daher als generationale Protestbewegung mit internationaler Bedeutung.
Die 68er-Bewegung wird überwiegend als westliches Phänomen wahrgenommen. 1968 sei sogar „zum Synonym für die kulturelle Verwestlichung geworden“. Dagegen deutet Immanuel Wallerstein die Bürgerrechtsbewegungen der 1960er-Jahre als ein gegen den Kapitalismus gerichtetes globales Ereignis. Er verwendet den Begriff der „Weltrevolution“. Wallerstein geht von der Annahme aus, dass der Kapitalismus als Weltsystem existiere, sodass es auf nationaler Ebene keine Revolution geben könne. In der Gleichzeitigkeit vieler Aufstände – sowohl 1848 als auch 1968 – erkennt er echte Weltrevolutionen. 1968 sei die Hegemonie der USA die wichtigste gemeinsame Angriffsfläche gewesen.
Marcel van der Linden versuchte zu erklären, warum innerhalb eines kurzen Zeitraums Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre viele verschiedene Prozesse abliefen. Zum einen nennt er drei strukturelle Faktoren:
  1. Das starke Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg, das in der Krise von 1966/67 stockte.
  2. Die weltweit stärkere Beteiligung an Bildung, einschließlich der universitären Ausbildung.
  3. Die Dekolonisierung, die nach dem Zweiten Weltkrieg begann und sich Anfang der 1960er Jahre beschleunigte.
Neben diesen strukturellen Einflüssen nennt er mehrere Ereignisse, die zu anderen Formen der Politik inspirierten: die kubanische Revolution, die chinesische Kulturrevolution, der Prager Frühling 1968 und die Tet-Offensive im Vietnamkrieg. Als weiteres Argument führt van der Linden wechselseitige Lernprozesse und internationale Kontakte an. Kontakte sowohl zwischen Arbeitern, die im Zuge des Aufstiegs multinationaler Unternehmen eine globale Vertretung ihrer Interessen zu organisieren suchten, als auch zwischen radikalen Studenten und Arbeitern. Damit lenkt van der Linden die Aufmerksamkeit auf nichtstudentische Bewegungen, insbesondere auf die Arbeiteraufstände in Frankreich, Italien und Spanien.
Die transnationale Dimension der 68er-Bewegung ist durch Dekolonisierung, Antiimperialismus und durch den Widerstand gegen verschiedene Formen des Neokolonialismus gefördert worden. Besonders der Antikolonialismus stellte eine große Verbundenheit zwischen Akteuren auf der ganzen Welt her. 
Die Fokustheorie des Ernesto Che Guevara und die Schriften des algerischen Befreiungskämpfers Frantz Fanon bildeten einen gemeinsamen Integrationsrahmen und führten zu konkreten Organisationsformen im Sinne einer Guerillamentalität. Die kubanische Revolution (1959) und der Algerienkrieg (1954–1962) können als Wegbereiter der 68er-Bewegung betrachtet werden.
Roman Rosdolskys 1968 veröffentlichtes Standardwerk Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen Kapital war für die Neue Linke eine maßgebende Interpretation der Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx. Es bestärkte die bundesdeutsche 68er-Bewegung in ihrer Forderung nach einem Ausstieg aus dem kapitalistischen System. Dieses Motiv der „großen Verweigerung“ stammt von dem deutsch-amerikanischen Soziologen und Philosophen Herbert Marcuse. In seinem 1964 veröffentlichten Werk Der eindimensionale Menschversuchte er, die befreite Gesellschaft vernunfttheoretisch und triebtheoretisch zu begründen. 1967 führte Marcuse in seinem an der Freien Universität Berlin gehaltenen Vortrag Das Ende der Utopie diesen theoretischen Ansatz aus. Nach Ansicht des US-amerikanischen Sozialwissenschaftlers Immanuel Wallerstein ist die aufbegehrende Mittelschicht das Charakteristikum der internationalen 68er-Bewegung. Diese Mittelschicht und mit ihr das kapitalistische Weltsystem sieht Wallerstein untergehen.
In den weltweiten Protesten der 1968er Jahre erlebte die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno entwickelte Kritische Theorie ihre Blütezeit. Sie will gesellschaftliche Mechanismen der Beherrschung und Unterdrückung aufdecken. Ihr Ziel ist eine vernünftige Gesellschaft mündiger Bürger.
Die 68er-Bewegung war ein internationales Phänomen. Als erstes wichtiges Ereignis gilt der Sieg der kubanischen Revolution am 1. Januar 1959.


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