2014 noch prägte der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier das Bild von der “aus den Fugen geratenen Welt”. Beschrieben wurde damit die rasende Geschwindigkeit, mit der sich außen- und sicherheitspolitische Krisen vermehrten. Die Problemlösungskompetenz der internationalen Gemeinschaft steht seither zu Recht in Frage – die blutigen Kriege in Syrien, in Jemen und der Ost-Ukraine zeugen davon. Immer mehr Menschen befinden sich auf der Flucht vor Gewalt, den Folgen des Klimawandels und Armut. Nicht nur unter der Flut an Problemen droht die Idee der erfolgreichen internationalen Zusammenarbeit, die multilaterale Nachkriegsordnung, zu zerbrechen. Waren es vor fünf Jahren vor allem Putins Russland und China, die den Status-quo und internationale Regeln in Frage stellten, sind heute unter der wankelmütigen Führung von Donald Trump die USA Anführer der Isolationisten. Geopolitische Rivalitäten kennzeichnen das Ringen um internationale Handelspolitik, Abrüstung, Klimaschutz, ja der gesamten Weltordnung.
Für Europa
ist mit der US-Politik des “America First” der wichtigste Partner zum
unsicheren Kantonisten geworden. Kein Wunder, dass vor diesem Hintergrund die
Idee von mehr europäischer Souveränität in der Außen- und Sicherheitspolitik
besonders en vogue geworden ist. Sicher: mehr europäische Souveränität ist
notwendig, um die eigenen Interessen und Werte durchzusetzen. Gleichsam mangelt
es Europa bisher an drei zentralen Voraussetzungen für eine eigenständige
Politik.
Erstens
gelingt es Europa zu selten, zu einer tragfähigen gemeinsamen
Interessendefinition zu kommen. Das fruchtlose Ringen um eine rechtbasierte und
menschenwürdige Flüchtlingspolitik bleibt dafür das eindrücklichste Beispiel.
Weil der Kontinent nicht zu fairer Lastenteilung in der Lage ist, bleibt
Europas Außengrenze die tödlichste weltweit. Auch in konkreten außenpolitischen
Krisensituationen zeigt die EU sich handlungsunfähig. In Libyens wieder
aufflammendem Bürgerkrieg unterstützte Frankreich General Haftar, Italien seine
Gegenspieler. Die Vereinten Nationen und die EU waren in ihren
Vermittlungsbemühungen blockiert, ein Skandal angesichts der strategischen
Bedeutung des Landes.
Zweitens
mangelt es der EU an glaubwürdigen Kapazitäten zur Eigenständigkeit. Zwar hat
sie in den letzten Jahren durch Kooperation im Verteidigungsbereich große
Fortschritte gemacht, aber befriedigend sind die Schritte keineswegs.
Einsparungspotentiale durch eine bessere Zusammenarbeit der
Verteidigungsindustrien bleiben weitgehend ungenutzt. Die deutsche Diskussion erstarrt
in der von Trump mit Wucht aufgebrachten, doch wenig zielführenden
Fragestellung, ob eine Steigerung des Wehretats hin zu den von der NATO
angestrebten zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der richtige Schritt
sei. Ausgeblendet wird dabei, dass die beträchtlichen Ausgaben für die
Bundeswehr nicht zu einer entscheidenden Verbesserung der personellen und
materiellen Ausstattung der Truppe geführt haben und hier grundlegende
strukturelle Reformen bitter nötig sind. Genau diese hat Verteidigungsministerin
von der Leyen in sechs Jahren Amtszeit versäumt.
Mangelnde
Kapazitäten betreffen aber auch die Außenpolitik. Der europäische Umgang mit
dem Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran führt dies eindrücklich
vor Augen. Trotz vollmundiger Bekundungen ist es nicht gelungen, den Schaden
der von den USA verhängten Sanktionen für den Iran zu begrenzen. Der von den
Europäern angedachte Finanztransaktionsmechanismus ist faktisch immer noch
nicht in Kraft. Besonders viel Mühe hat Europa auch nicht darauf verwendet. So
haben in Washington und in Teheran die Hardliner Oberwasser und die Zeichen
stehen auf Eskalation: die akute Kriegsgefahr im Golf ist ebenso wenig gebannt
wie die eines nuklearen Rüstungswettlaufs im Nahen Osten. Für den Anspruch einer
schlagkräftigen und unabhängigen europäischen Diplomatie ist dies ein
Armutszeugnis.
Drittens
benötigt strategische Souveränität eine feste Wertegrundlage. Staaten wie
Russland und China fordern nicht nur die Interessen, sondern auch die Werte
Europas heraus. Autokratien und Populisten beschwören die Fassade von
Stabilität und Wohlstand, wo am Ende oft Friedhofsruhe,
Menschenrechtsverletzungen und Korruption regieren. Europa kann und muss sich
dem entgegenstellen. Dafür braucht es Glaubwürdigkeit und eine demokratisch
geeintes Europa nach innen.
Europa wird mehr Eigenständigkeit und Handlungsfähigkeit benötigen, will es das unter Druck stehende internationale Regelwerk retten. Aber das Projekt einer europäischen Souveränität in einer Welt abnehmender Wertepartner steckt noch in den Kinderschuhen. Laufen lernen muss es angesichts der rapiden weltpolitischen Veränderungen so bald als möglich.
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