Samstag, 24. Juni 2017

Ratifizierung und Scheitern des Verfassungsvertrags


Vor dem Inkrafttreten des Verfassungsvertrags musste dieser allerdings von allen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Je nach Staat war hierfür entweder ein Parlamentsbeschluss oder eine Volksabstimmung notwendig. Allerdings kündigten mehrere Regierungen, in denen auch eine rein parlamentarische Ratifikation möglich gewesen wäre, ein Referendum an, um damit die besondere Bedeutung des Verfassungsvertrags zu unterstreichen. Hierzu zählten unter anderem Spanien, Frankreich, die Niederlande und Luxemburg. In Deutschland wurde ein Referendum zwar von der FDP gefordert; hierfür wäre jedoch eine Grundgesetzänderung notwendig gewesen, die von den übrigen Parteien abgelehnt wurde. Ein europaweites Referendum, wie es etwa die Europäischen Grünen vorschlugen, fand ebenfalls keine mehrheitliche Zustimmung.


Als erstes Land ratifizierte am 11. November 2004 das litauische Parlament mit 84 Ja-, vier Nein-Stimmen und drei Enthaltungen die EU-Verfassung. Dem folgten Ungarn am 20. Dezember 2004 sowie Slowenien am 1. Februar 2005, ebenfalls durch Parlamentsbeschluss.

Das erste nationale Referendum fand am 20. Februar 2005 in Spanien statt. Es war konsultativ (also nicht bindend) und endete mit einer Zustimmung von 76,7 % für die EU-Verfassung bei einer Wahlbeteiligung von 42,3 %. Die anschließende Abstimmung im Kongress fand am 28. April 2005 statt; der Senat stimmte am 18. Mai mit 225 zu 6 Stimmen und einer Enthaltung für die Annahme der Verfassung.

Als erstes EU-Gründungsmitglied stimmte Italien dem neuen Verfassungsvertrag zu. Bereits am 25. Januar 2005 billigte das italienische Unterhaus die Verfassung, am 6. April 2005 sprachen sich auch die römischen Senatoren mit 217 zu 16 Stimmen für den Vertrag aus.

Im belgischen Parlament wurde am 11. März 2005 über die für ein Referendum nötige (nationale) Verfassungsänderung abgestimmt. Die notwendige Zweidrittelmehrheit wurde dabei jedoch nicht erreicht, sodass die Ratifizierung auf parlamentarischem Weg stattfand. Wegen der föderalen Struktur Belgiens war hierzu auch die Zustimmung der regionalen und gemeinschaftlichen Parlamente notwendig, die bis zum 8. Februar 2006 nach und nach alle für die Verfassung stimmten.

In Griechenland ratifizierte das Parlament die Verfassung mit großer Mehrheit (268 Ja-, 17 Nein-Stimmen und 15 Enthaltungen) am 19. April 2005. Das slowakische Parlament ratifizierte die Verfassung ebenfalls mit großer Mehrheit (116 Ja-, 27 Nein-Stimmen bei 4 Enthaltungen) am 11. Mai 2005.

In Deutschland erfolgte die Zustimmung des Bundestags am 12. Mai 2005 mit 95,8 % der abgegebenen Stimmen. 594 Abgeordnete gaben ihre Stimme ab, davon stimmten 569 mit Ja, 23 mit Nein, zwei enthielten sich. Der Bundesrat stimmte am 27. Mai mit 66 von 69 Stimmen bei drei Enthaltungen (des von einer SPD/PDS-Koalition regierten Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern) für den Vertrag.

Noch am selben Tag erhob jedoch der Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler (CSU) vor dem Bundesverfassungsgericht eine Organklage und eine Verfassungsbeschwerde gegen den Verfassungsvertrag; Verfahrensbevollmächtigter der Klage war der Nürnberger Rechtsprofessor Karl Albrecht Schachtschneider, der bereits bei den (erfolglosen) Verfassungsklagen gegen den Maastricht-Vertrag sowie gegen die Euro-Einführung federführend gewesen war. Zudem erhoben Rechtsanwalt Mario Schmid aus Freiburg sowie weitere 34 Bürger Verfassungsbeschwerde. Der Bundespräsident Horst Köhler erklärte daraufhin, er werde die Ratifikationsurkunde erst unterzeichnen, wenn das Bundesverfassungsgericht über die Klage Gauweilers und Schmids entschieden hätte.

In Österreich beschloss der Nationalrat den Vertrag über eine Verfassung für Europa (851 d.B. XXII. GP) am 11. Mai 2005 mit überwältigender Mehrheit; lediglich eine Abgeordnete (Barbara Rosenkranz, FPÖ) stimmte dagegen. Der Bundesrat entschied am 25. Mai 2005 ebenfalls positiv; drei der 62 Mitglieder, Vertreter der rechtsnationalen Parteien FPÖ und BZÖ, stimmten dagegen. Zuvor wurde im März 2005 das Bundesverfassungsgesetz über den Abschluss des Vertrages über eine Verfassung für Europa (789 d.B. XXII. GP), das eine rein parlamentarische Ratifizierung ohne Volksabstimmung festlegte, im Nationalrat und Bundesrat jeweils einstimmig beschlossen. Eine Bürgerinitiative für eine Volksabstimmung blieb folgenlos. Hans-Peter Martin reichte beim Verfassungsgerichtshof einen Individualantrag ein.

Das französische und niederländische Referendum

Am 29. Mai 2005 schließlich kam es in Frankreich zu einem Referendum über den Verfassungsvertrag. Dieses war nach der französischen Verfassung nicht zwingend vorgesehen, von der Regierung unter Jacques Chirac jedoch vor allem aus innenpolitischen Gründen anberaumt worden, um die Legitimation der Verfassung zu erhöhen und auch die eigene Popularität mit einem – scheinbar – leichten Erfolg bei einer öffentlichen Abstimmung zu verbessern. Tatsächlich fand die wichtigste französische Oppositionspartei, die sozialistische PS, intern zu keiner gemeinsamen Haltung zu der Verfassung: Während die Parteispitze sich dafür aussprach, führten prominente Politiker des linken Parteiflügels, darunter der frühere Premierminister Laurent Fabius, einen eigenen Wahlkampf dagegen. Auch die kommunistische PCF und die rechtsextreme FN sowie einige Intellektuelle wie der Philosoph Jean Baudrillard sprachen sich gegen die Verfassung aus.

Nachdem die Umfragewerte anfangs für die Verfassungsbefürworter sehr günstig gewesen waren, begannen sie jedoch in den letzten Wochen vor der Abstimmung zu kippen. Schließlich lehnten die Wähler den Verfassungsvertrag mit einer Mehrheit von 54,7 % (bei einer Wahlbeteiligung von 69,3 %) ab. Dieses Ergebnis löste unmittelbar heftige Reaktionen in Frankreich und den übrigen EU-Ländern aus, da ausgerechnet eines der Gründungsmitglieder, das überdies als einer der „Motoren“ des Integrationsprozesses galt, den Verfassungsvertrag ablehnte.

Kurz darauf erfolgte am 1. Juni 2005 ein weiteres Referendum über den Verfassungsvertrag, diesmal in den Niederlanden, wo es sich um die erste Volksbefragung in dem Land seit 200 Jahren handelte. Hier wies eine große Mehrheit von 61,6 % (bei einer Wahlbeteiligung von 62,8 %) den Verfassungsvertrag zurück. Obwohl das Referendum nicht bindend war, hatten die führenden Politiker des niederländischen Parlaments bereits vorher angekündigt, sich an das Votum der Bürger zu halten, wenn die Wahlbeteiligung über 30 % läge.

Die „Reflexionsphase

Der Verfassungsvertrag sah vor, dass, sofern vier Fünftel der Staaten (also 20) den Entwurf bis Ende 2006 ratifiziert hätten, in einzelnen Mitgliedstaaten dabei aber Schwierigkeiten auftreten würden, der Europäische Rat sich erneut mit dieser Frage beschäftigen würde. Diese Regelung war vor allem als letzter Anker mit Blick auf traditionell europaskeptische Länder wie Großbritannien getroffen worden. Die Ablehnung der EU-Verfassung in zwei der Gründungsmitglieder wirkte dagegen wie ein Schock und löste eine unmittelbare intensive Debatte aus. Die bis Anfang Juni 2005 formulierten ersten Reaktionen und Beurteilungen in der Union reichten von Pessimismus über Beschwichtigung und die Suche nach Erklärungen bis zu größerem Optimismus als zuvor. Europäische Politiker befürchteten insbesondere eine institutionelle Blockade der europäischen Entscheidungsprozesse.

Mitte Juni 2005 stellte der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker in seiner Funktion als Vorsitzender des Europäischen Rates fest, dass „die ursprünglich für den 1. November 2006 geplante Bestandsaufnahme zur Ratifizierung nicht mehr haltbar“ sei, „da jene Länder, die den Text nicht ratifiziert haben, nicht vor Mitte 2007 eine gute Antwort geben“ könnten. Hintergrund war, dass die Neuwahl des französischen Staatspräsidenten im Mai 2007 abgewartet werden sollte. Aufgrund dessen sollte eine etwa einjährige Phase der Reflexion und Diskussion eingeleitet werden, in der den Mitgliedstaaten die Gelegenheit gegeben werden sollte, den Verfassungsvertrag nach umfassender öffentlicher Debatte ohne Zeitdruck zu ratifizieren oder dessen Ratifizierung aufzuschieben. Wie vorgeschlagen, beschloss der Europäische Rat daher eine „Denkpause“ und verschob eine neuerliche Diskussion auf Mitte 2007.

Tatsächlich setzten mehrere Länder den Ratifizierungsprozess auch nach dem französischen und niederländischen Nein fort. So sprachen sich Lettland (2. Juni 2005), Zypern (30. Juni 2005), Malta (6. Juli 2005), Estland (9. Mai 2006) und Finnland (Juni 2006) im parlamentarischen Verfahren für die EU-Verfassung aus. In Luxemburg fand am 10. Juli 2005 ein Referendum statt, an dessen erfolgreichen Ausgang Premierminister Jean-Claude Juncker auch sein weiteres Verbleiben im Amt koppelte. Eine Mehrheit von 56,5 % stimmte dem Verfassungsvertrag zu.

Dänemark, Großbritannien, Irland, Polen, Portugal, Schweden und Tschechien unterbrachen den Ratifizierungsprozess dagegen. Von diesen Ländern beabsichtigte Schweden die EU-Verfassung im parlamentarischen Wege zu ratifizieren, während Dänemark, Irland, Portugal und Großbritannien Referenden geplant hatten. In Polen und Tschechien war noch nicht entschieden, ob ein Referendum stattfinden sollte; in beiden Ländern hatte es zuvor von konservativer Seite starke Kritik an dem Verfassungsvertrag gegeben, der sich in Tschechien auch Staatspräsident Václav Klaus angeschlossen hatte. Im Falle der 2007 beigetretenen neuen Mitgliedstaaten Bulgarien und Rumänien war die Zustimmung zum Verfassungsvertrag bereits Teil der Beitrittsverträge gewesen und wurde daher zugleich mit dem Beitritt ratifiziert. In Deutschland schließlich stellte das Bundesverfassungsgericht nach den Referenden in Frankreich und den Niederlanden die Bearbeitung der Verfassungsklagen gegen den Vertrag ein. Deutschland ratifizierte daher den Verfassungsvertrag letztlich nicht, auch eine Entscheidung über seine Vereinbarkeit mit dem deutschen Grundgesetz erfolgte nicht.

Im Januar 2006 schlug die österreichische EU-Präsidentschaft vor, den Ratifizierungsprozess wieder in Gang zu setzen, stieß damit aber auf massiven Widerspruch, insbesondere seitens Frankreichs, der Niederlande und Polens. Als Lösung aus der Krise wurde 2006 auch eine EU-weite Ratifikation des Vertrages per Volksreferendum ins Spiel gebracht, verknüpft mit den Wahlen zum Europäischen Parlament 2009. Diese hätte die Bedeutung von Vetos durch nationale Referenden reduziert. Gegen diesen österreichischen Vorschlag kam aber u. a. aus Deutschland heftiger Widerstand. Auch verschiedene Vorschläge zu Änderungen oder Ergänzungen des Verfassungsentwurfs, die während der Reflexionsphase und besonders im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2007 diskutiert wurden, stießen auf keine einhellige Zustimmung: Während vor allem auf Seiten der französischen Linken ein ergänzendes Sozialprotokoll gefordert wurde, das aber von Großbritannien abgelehnt wurde, schlug Nicolas Sarkozy einen „Miniaturvertrag“ vor, der sich nur auf die wichtigsten Neuerungen beschränkte, ohne allerdings zu präzisieren, welche das sein könnten. Großteils abgelehnt wurden auch Vorschläge, einzelne populäre Bestimmungen der Verfassung, etwa das Europäische Bürgerbegehren, schon vorab zu beschließen; hierin sahen viele, insbesondere auch deutsche Politiker eine Gefahr für das Gesamtgleichgewicht des Kompromisses, den die verschiedenen Mitgliedstaaten mit der Verfassung erreicht hatten.

Vertrag von Lissabon statt Verfassungsvertrag

Ein Ende der „Denkpause“ zeichnete sich erst auf dem Europäischen Rat am 15. und 16. Juni 2006 ab, auf dem die Staats- und Regierungschefs als Arbeitsperspektive für die Lösung der Verfassungskrise einen Zeitpunkt Ende 2008 formulierten, wenn Frankreich die Ratspräsidentschaft innehaben würde. Ein informell besprochener Zeitplan sah vor, dass unter der deutschen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 weitere Schritte zur Rettung des Vertragswerks unternommen werden sollten.

Hierzu wurde zunächst in der am 25. März 2007 zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge verabschiedeten „Berliner Erklärung“ über grundlegende europäische Werte und politische Ziele der Europäischen Union auch ein grundsätzliches Bekenntnis zu den Zielen der Verfassung aufgenommen. Anhand der Positionen der Mitgliedstaaten wurde daraufhin von der deutschen Ratspräsidentschaft erarbeitet, welche Inhalte des Verfassungsvertrages in ein erneuertes Vertragswerk übernommen werden sollten. Auf dieser Grundlage beschloss der Europäische Rat auf seiner Tagung am 21. und 22. Juni 2007 in Brüssel, die weitere Ratifizierung der Verfassung aufzugeben und stattdessen einen „Reformvertrag“ zu verabschieden, der die Substanz des Verfassungstextes in die bereits bestehenden Grundlagenverträge (EUV und EGV) einarbeiten sollte. Dieser Reformvertrag wurde von den Staats- und Regierungschefs der EU am 13. Dezember 2007 in Lissabon unterzeichnet und heißt daher inzwischen „Vertrag von Lissabon“. Er trat nach seiner Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten am 1. Dezember 2009 in Kraft.

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